Samstag, 11. September 2010

Aufsatz

18:30 Uhr. Die S-Bahn hält mit einem ohrenbetäubenden Quietschen auf Gleis 5 an... was für ein Tag! Am liebsten würde ich sofort in mein geliebtes Bett fallen und an nichts denken müssen. Nicht mal träumen möchte ich, einfach nichts. Eine unbeschwerte, federleichte Leere in mir.

Stattdessen sitze ich in der stickigen, überfüllten S40. Ich frage mich, weshalb mein Stundenplan genau so eingeteilt werden musste, damit ich auch bestimmt jeden Tag zu den beliebten Stosszeiten Zug fahren muss. Immerhin konnte ich mir noch in letzter Sekunde einen Platz ergattern.

Der Greis neben mir wiegt für seine mickrige Grösse bestimmt 50 Kilo zu viel. Auf jeden Fall nimmt er eineinhalb Sitze ein und quetscht mich somit an das, von Fingerabdrücken verschmierte, Fenster. Auf der anderen Seite sitzt ein weiterer Mann. Gute 50 Jahre trägt der bestimmt auch schon auf dem Buckel. Na ja, wenn ich ehrlich bin, hat er gar keinen Buckel, aber irgend etwas an ihm kommt mir höchst unsympathisch rüber. Vielleicht ist es ja der von - oben - herab - wirkende Blick der mich so stört, oder auch nur sein Schnauz, der perfekt zu seinem grauen Jackett passt. Direkt mir gegenüber sehe ich eine Frau mit einem farbigen Tuch um den Kopf gebunden. Es ist äusserst schwierig einzuschätzen, wie alt sie ist. Sie hat etwas sehr Zerbrechliches an sich und sieht körperlich geschwächt aus. Mein Blick fällt auf ihre Hände, die verkrampft und leicht zitternd eine Tasche umklammern. Um ihr Handgelenk trägt sie ein silbernes Armband, das mit den Initialen A. N. versehen ist. "Ach du meine Güte!", fast hätte ich laut aufgeschrien. Erst jetzt ist mir ihr dünnes Handgelenk selbst aufgefallen. Wie das Handgelenk meiner 6-jährigen Cousine Nora. Es ist mir höchst unangenehm, denn mein erschrockener Blick ist bestimmt auch ihr nicht entgangen. Ihre rosa gefärbten Lippen formen sich zu einem scheuen Lächeln. Sie ist nicht viel älter als ich, denn auch wenn ich ihre Haare nicht sehen kann, scheint mir ihr Gesicht noch sehr jung. Ihre tiefblauen Augen funkeln im Sonnenlicht, ähnlich wie das Meer, das die letzten Sonnenstrahlen reflektiert. Die feinen Gesichtszüge scheinen ihre innere Ruhe zu spiegeln...
Ich weiss nicht wie lange ich die junge Frau schon mustere, aber sie hat etwas an sich, das viele Fragen aufwirft. So viele Widersprüche!
"...karte sehen" ... "Tschuldigung junges Fräulein, dürfte ich bitte ihre Fahrkarte sehen?", ich schrecke aus meiner Träumerei auf. "Alter, musst du mich denn so erschrecken?!" Nein, das habe ich hoffentlich nicht laut gesagt, bitte bitte nicht... Seinem Gesichtsausdruck nach, waren es doch nur meine Gedanken, die ich für einen Moment lang nicht unter Kontrolle hatte. Mein Mundwerk ist zum Glück nicht ganz so Rekord - verdächtig was die Schnelligkeit angeht.
Der Kondukteur lächelt mich erwartungsvoll an: "Die Fahrkarte?". "Oh, ja klar", ich habe sie irgendwo in meiner riesengroßen Tasche, die ja beinahe nur einen halben Quadratmeter Durchmesser hat. Aber ich kenne meine Handtasche in- und auswendig, ein Handgriff und ich hab... Scheisse, wo ist mein GA?!
Nach einer halben Ewigkeit, es sind bestimmt schon vier Minuten und 20 Sekunden vergangen, gebe ich es langsam auf. Jetzt ist Spontanität angesagt Ellice. Eine mitleiderregende Ausrede könnte dich eventuell noch vor einer Busse retten: "Ich... ich kann meine Fahrkarte nicht finden. Ich bin mir so sicher, das GA eingesteckt zu haben heute morgen, und jetzt ist es einfach weg. Jemand muss mir das Portemonnaie geklaut haben, ich kann es mir nicht anders erklären." "Sie haben ein GA? Dann können sie mir bitte ihren Namen und ihre Adresse angeben?", fragt mich der Mann geduldig weiter. "Ich heiße Ellice... Ellice Carstens und wohne an der Lindenstrasse sieben." "Gut, danke. Wenn du dich in dieser Woche beim Bahnhof-Büro meldest, dann kommst du nochmals gut davon. Wünsche den Damen und Herren noch eine gemütliche Fahrt."
Super, ich muss diese Woche noch zur Bahn. Als hätte ich nichts Besseres zu tun!!!

Der Zug hält bereits zum dritten Mal. Die beiden Herren aus meinem Abteil machen sich davon. Zurück bleibe ich, und die Frau mit dem Kopftuch. Es ist eine merkwürdige Stimmung. Als hätten sich die Rollen getauscht, denn nun war ich diejenige die gemustert wurde.
Nach ein paar stillschweigenden Minuten überwinde ich mich endlich ein Gespräch zu starten: "Für was stehen die Initialen an deinem Armband eigentlich?" Mit einem überraschten Schmunzeln antwortet sie mir: "Die Initialen stehen für meinen Namen. "A" für Amalia und "N" für Nives." "Freut mich Amalia. Wie ich heiße, hast du bestimmt schon vorhin mitbekommen... Kommst du auch von der Schule?" Ein Zucken geht über ihr ganzes Gesicht, als würde es sie viel kosten, mir eine Antwort zu geben: "Es ist mir im Moment leider nicht möglich in die Schule zu gehen. Ich besuche eigentlich das Gymnasium, aber mein Leben besteht zu diesem Zeitpunkt fast ausschließlich aus Arztbesuchen, Therapien und Spitalaufenthalten. Vor einem halben Jahr hat man Krebs feststellen müssen. Es ist nicht einfach über diese Dinge zu sprechen..." Ich halte meinen Atem an und fühle mich beinahe gelähmt. Klar ich habe gesehen, dass sie abgemagert und kränklich aussieht. Aber wer hätte gleich an Krebs gedacht! Nun wird mir auch klar, weshalb sie ein Kopftuch trägt...
"Amalia, ich... ich weiss nicht was ich sagen soll. Ich..." Sie lächelt mir zu, als müsste sie mich fast trösten. "Du brauchst nichts zu sagen, wirklich. Mir ging es nicht anders, als ich davon erfuhr...

Alles begann damit, daß ich Mitte Juni eine Schwellung am Oberschenkel bemerkte; da ich keine Schmerzen hatte, dachte ich, es sei nichts weiter als eine kleine Zerrung vom Kegeln.

Doch als diese scheinbare Zerrung 2 Wochen später kein bisschen zurückgegangen war, war es höchste Zeit für mich, zum Hausarzt zu gehen. Mein Hausarzt untersuchte mich genauestens und schickte mich sicherheitshalber sofort ins Krankenhaus zum Röntgen.

Dort mussten wir (mein Vater und ich) erst einmal total lang warten, bis wir endlich aufgerufen wurden.

Der Professor tastete meine Schwellung genau ab, und noch bevor ich geröntgt wurde, diagnostizierte er einen Tumor, in den meisten Fällen bösartig, wie er sagte.

Ich war total geschockt, mir wurde schwarz vor Augen.

Er erzählte etwas über Operation und Therapie. Ich begriff nicht und wollte auch gar nicht begreifen.

Habe ich etwa Krebs, das kann doch nicht sein, Krebs bekommen doch nur alte Leute, und es geht mir doch gut.

Natürlich wusste ich, daß auch kleine Kinder Krebs bekommen können, aber ich doch nicht.

Damals wollte ich mich überhaupt nicht mit dieser Krankheit auseinandersetzen, denn für mich war völlig klar, daß ich kerngesund war.

So liefen das Aufklärungsgespräch und die einzelnen Untersuchungen wie in einem schlechten Film an mir vorbei.

Als ich das erste Mal auf die Kinder-Krebs-Station kam, war ich ziemlich geschockt, als ich die vielen haarlosen Kinder sah, doch auch da bildete ich mir ein, unmöglich dazuzugehören.

Nach der Biopsie dauerte es dann auch tatsächlich ziemlich lange, bis das Untersuchungsergebnis da war. Ganze 3 Wochen dauerte diese Unsicherheit an, ich lebte zwischen Angst und Hoffnung. Trotzdem versuchte ich ständig, diese Krankheit zu verdrängen, ich wollte nichts mehr wissen von dieser Krankenhauswelt, sondern so schnell wie möglich wieder ein ganz normales Leben führen.

Doch nach diesen 3 Wochen kam das niederschmetternde Ergebnis: Es war also doch bösartig. Eine Welt brach für mich zusammen.

Es wurde entschieden, ob man in meinem Fall zuerst operiert oder gleich mit der Chemotherapie beginnt.

Die Ärzte entschieden sich für die „Chemo", und es war mir recht, denn vor der Operation hatte ich ziemlich Angst, und ich dachte mir, daß die Therapie bestimmt nicht so schlimm ist. Doch gerade die erste Chemo war auch die schlimmste. Ich musste am laufenden Band kotzen, und die Haare gingen mir auch schon nach 10 Tagen aus.

Ich hatte schon ca. 10 kg abgenommen und konnte einfach nichts essen, deshalb drängte mich meine Familie dazu, vor allem meine Mutter nervte mich etwa jede Stunde mit Brei und Süppchen. Das hat eigentlich gar nichts gebracht, denn ich sträubte mich schon innerlich so gegen jegliche Nahrungsaufnahme, daß ich gleich schon wieder spucken musste.

Ca. einen Monat später wurde ich operiert. Natürlich hatte ich Angst vor der Operation, vor allem davor, wie weiträumig man operieren musste.

Doch als ich nach der Operation die Nachricht bekam, man sei auf beiden Seiten ins gesunde Gewebe gekommen, war ich total erleichtert. Ehrlich gesagt überlegte ich mir, wozu ich überhaupt noch Chemo machen sollte. Doch diese Entscheidung überließ man mir überhaupt nicht. Es war schrecklich für mich, wenn über meinen Körper entschieden wurde, ich fühlte mich irgendwie übergangen, obwohl ich natürlich schon wusste, daß diese Therapie für mich lebensnotwendig war. Nun habe ich das ganze jedoch mehr oder weniger akzeptiert. Es bringt so oder so nichts, wenn man sich dagegen sträubt.

Was mir während der Therapie sehr hilft, ist die Abwechslung, die ich vor allem in den Chemo-Pausen zu Hause habe, das heißt, Besuch von Freunden und Bekannten, mit denen ich ganz belanglos reden kann. Dabei bin ich immer froh, wenn mich meine Freunde wie einen ganz normalen Menschen behandeln und mich nicht mit Mitleidsmiene betrachten. Sehr hilfreich für mich sind Jugendliche, die in derselben Lage sind wie ich. Mit ihnen kann ich teilweise sehr gut über die Krankheit reden, und ich merke, nicht allein mit meinen Problemen zu sein.

Auch Gespräche mit Psychologen und Sozialarbeitern helfen mir, mich nun doch mit der Krankheit etwas auseinanderzusetzen.

Schlimm ist aber, daß ich durch meine Operation total auf meine Eltern angewiesen bin und auch schon im Rollstuhl sitzen musste. Überhaupt ist diese Unselbständigkeit furchtbar.

Traurig ist, daß sich viele Freunde, vor allem von meiner Klasse, total zurückgezogen haben.

Am meisten nerven mich neugierige, sensationsbedürftige Besucher, die alles haarklein wissen wollen und womöglich noch von ihren eigenen gesundheitlichen Problemen erzählen.

Auch Bekannte, die einem gesundheitliche Tipps geben wollen, nerven nicht nur mich, sondern auch meine Mutter.

Für meine Familie ist es oft schlimmer als für mich selbst. Sie sehen mich leiden und können rein gar nichts dagegen tun. Doch ich war bisher immer froh, wenn meine Mutter während der Chemo bei mir war. Auch wenn ich nur so vor mich hin döse, bin ich beruhigt, daß jemand bei mir ist."

Ich kann beim besten Willen die Tränen nicht mehr unterdrücken. Ich bin ihnen hilflos ausgeliefert. Wie um Himmels Willen kann es sein, dass ein so junges Mädchen ein solches Schicksal einfach hinnehmen muss. Als würde man eine aufgehende Knospe daran hindern wollen sich zu einer wunderschönen Blume zu entfalten. Ich kann es nicht verstehen, und ich will es gar nicht erst versuchen. Wie sagt man so schön "Alles hat seinen Grund", doch ich sehe hier weit und breit keinen Grund für das was Amalia durchstehen muss!
Da ich nicht im Stande bin irgend einen Ton von mir zu geben, fährt Amalia mit ihrer Geschichte fort: "Ellice, du musst wissen, ich habe keine Angst... nicht mehr. Ich werde kämpfen!", ihre Augen strahlten eine wahnsinnige Kraft aus. "Es tönt für dich bestimmt unglaubwürdig, aber als ich von der Krankheit erfahren hatte, träumte ich noch in dieser Nacht von meiner Grossmutter, die schon vor einigen Jahren von uns gegangen ist. Ich weiss nicht ob es ein Zeichen, oder nur eine Illusion von mir war, aber das kann mir eigentlich egal sein. Denn dieser Traum gab mir die Kraft um gegen die Krankheit zu kämpfen. Ihre warme Stimme sprach zu mir:


Es ist alles so seltsam, und dennoch glaubwürdig. Ich habe noch nie eine solche Persönlichkeit wie Amalia getroffen. Ich bewundere sie! Mir wird erst jetzt klar, was für ein Glück ich habe, einfach nur gesund zu sein. Mir war das noch nie so bewusst, wie in diesem Moment. Etwas in mir hat sich verändert...

Ist die Zeit nun schnell vergangen. Die zweitletzte Station, bevor ich aussteigen muss. In Gedanken versunken schaue ich aus dem Fenster. Wie leer die Perrons um diese Zeit sind.

"Amalia, ich bewundere dich wirklich und weiss, dass du es schaffen wirst! Aber darf ich dich noch etwas fragen... Wie kommt es, dass du mir so etwas Persönliches von dir anvertraut hast, obwohl wir uns erst in diesem Zug kennengelernt haben?"

Es kommt keine Antwort. Ich schaue wieder zu ihr und... der Sitz ist leer. Alleine bleibe ich zurück, im Abteil der S40.






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